#Gastkommentar

Martin Erian, Trainer der Virtuellen PH, hat zehn Wochen Distance Learning hautnah erlebt. Er unterrichtet an der Praxis-HAK Völkermarkt, einer Schule, die aufgrund vieler Bemühungen auf virtuelles Unterrichten gut vorbereitet war. In einem Blogbeitrag blickt er auf die letzte Zeit zurück und wirft Fragen auf, welche Schlüsse aus dem erzwungenen Digitalisierungsschub gezogen werden können.

Man musste gar nicht Ischgler Aprés-Ski-Wirt sein, um die Ausmaße der Pandemie lange Zeit zu unterschätzen. Als ich am Morgen des 13. März nach zwei Tagen Dienstreise wieder in der Schule stand, war ich recht frohen Mutes – und damit fehl am Platz. Ich traf auf nervöse Klassen, die das Schreiben von Schularbeiten im Lichte eines, so die Begründung, nahenden Infernos ablehnten, ich begegnete Menschen, die angebliche Sprachnachrichten des Innenministers via WhatsApp-Gruppen erhalten hatten und diese brisanten Fake News aufgeregt weitertrugen (siehe dazu Mimikama).

Die Gerüchte und gesicherten Nachrichten überschlugen sich, der Schultag ging rasch zu Ende, alle Jugendlichen waren fort, Besprechungen nicht mehr möglich. Eine völlig neue Situation war eingetreten und ließ nicht die geringste gemeinsame Vorbereitung zu. Plötzlich war Corona.

Und jetzt?

Das folgende Wochenende ließ die Erkenntnis sickern, dass nun in jeder Hinsicht eine besondere Zeit anbrechen würde. Es fehlte noch an Begrifflichkeiten, „Distance Learning“ war noch nicht geboren, doch klar war, dass etwas noch nicht Dagewesenes folgen sollte. Mit einer Videobotschaft wandte ich mich an meine Klassen, auch wenn in keiner Weise absehbar war, wie es weitergehen würde. „Zeit für Eigenverantwortung“ war das Motto. Zusatz: Ich werde mich online bald wieder melden.

Im „Twitterlehrerzimmer“, dem virtuellen Treffpunkt von Lehrkräften und anderen Playern im pädagogischen Kontext, die nach dem Prinzip „Working Out Loud“ agieren, herrschte selbstredend Hochbetrieb. Axel Krommer, Mediendidaktiker an der Universität Nürnberg-Erlangen, forderte rasch ein, Stundenpläne nicht 1:1 ins Netz zu übertragen.

Diesem Plädoyer stand zumindest auf den ersten Blick die Prämisse entgegen, jungen Menschen in stürmischen Zeiten als Schule ein wenig Halt zu geben, mit Regelmäßigkeiten, Livebesprechungen, Fristen. Ich fasste den Entschluss, eine von zwei bzw. zwei von drei Wochenstunden gemeinsam online abzuhalten, um das eigenständige Arbeiten anzuleiten bzw. in der Gruppe zu reflektieren. (Dass dies immer nur zwanzig bis dreißig Minuten dauern sollte, war ein naiver Irrtum dieses chaotischen Planungswochenendes.)

Ein neues Glücksgefühl

Am Montag um 8:15 Uhr gab es also die Premiere. Erstmals saß ich vor der Webcam, um gut zwanzig Jugendliche zu treffen. Die Erfahrungen als Teilnehmer von eLectures der Virtuellen PH halfen mir weiter, dennoch war es wie eine frühe Fahrstunde am Weg zum Führerschein. Und doch: Wir arbeiteten vom ersten Moment an konstruktiv, intensiv und vor allem positiv, waren unausgesprochen froh, dass es doch so etwas wie Normalität gab. Den Arbeitsfluss unterbrach maximal Stubenlöwe Sheba, der den zum Unterrichtsort gewordenen Tisch zurückerobern wollte (und zum Liebling mancher Schüler*innen wurde).

Bild: (c) Martin Erian

Es reifte also in Windeseile ein euphorisches Gefühl, diese Übergangslösung könnte durchaus gut funktionieren. Noch dachte zumindest ich, bald nach Ostern würde wohl die Rückkehr in die Schule nahen.

Spätestens an dieser Stelle muss ich Grundlegendes klarstellen: Wenn ihr hier meine Erfahrungen beschreibe, mache ich dies für meine Schulrealität, die sich nicht einfach so verallgemeinern lässt, schon deswegen, weil Altersstufe, soziale Situationen und weitere Merkmale des Standorts für die Erfolgsaussichten des Distance Learning wesentliche Parameter darstellten. Zahllos und jedes Mal aufs Neue wertvoll sind die Berichte über Jugendliche, die schulisch „verlorengingen“, weil sie ökonomisch und/oder sozial nicht über ein Umfeld verfügten, das ihnen den Lernerfolg ermöglichte. Lesenswert ist u.a. der Beitrag von drei Kolleg*innen, die an Neuen Mittelschulen arbeiten, der am Schulgschichtn-Blog sowie als Gastbeitrag im Standard erschienen ist.

Der erfolgreiche Pfad war schon ausgetreten. An meiner Schule, der Praxis-HAK Völkermarkt, waren die Rahmenbedingungen günstig, um diese Situation zu meistern, nicht nur wegen kleinerer Gruppen und reiferen Schüler*innen. Wir haben Schule der Zukunft nicht nur (wie alle Kärntner Handelsakademien) als Mascherl im Leitbild stehen, sondern versuchen – auch aufgrund des vehementen Drängens der Schulleitung – diesen Anspruch tatsächlich mit Leben zu füllen. Spätestens seit der Einführung von Office 365 am Standort Anfang 2017 wurden unzählige Schritte zur Weiterentwicklung gesetzt. Regelmäßig finden Schilfs (schulinterne Lehrerfortbildungen) statt, mit Vertreter*innen aus Bildung und Wirtschaft kommt es zum Austausch über zeitgemäßes Lernen und Arbeiten, auch das Angebot der Virtuellen PH wird genutzt; bereits im Frühjahr 2017 absolvierten Mitglieder des Kollegiums ein mehrwöchiges Online-Seminar on demand (siehe Blogbeitrag dazu).

Auf die Fortbildungsinitiativen folgten Taten, vieles wurde step by step zur Routine: MS Teams begleitet nahezu jedes Unterrichtsfach, konsequenterweise beheimatet die Onlineplattform mittlerweile ebenso die interne Kommunikation; die Mailflut ist passé. Auch kollaboratives Arbeiten hat dank der Cloud an Bedeutung gewonnen, Aspekte der Sicherheit und des Datenschutzes sind im Bewusstsein vieler verankert.

All das hat sich in der Corona-Phase bezahlt gemacht. Der Informationsfluss klappte ohne große Reibungsverluste, Neuigkeiten und Erfahrungen wurden flott virtuell ausgetauscht, auch in Onlinekonferenzen und kurzfristigen Fortbildungseinheiten.

Bild: (c) Martin Erian, mit freundlicher Genehmigung aller Abgebildeten

Der zentrale Gelingensfaktor in dieser besonderen Situation war zweifelsohne, dass viele Abläufe längst etabliert waren. Während an anderen Schulen über Nacht Lernplattformen aktiviert oder überhaupt erst Accounts für Lehrende und Lernende eingerichtet wurden, gehört die eigenständige Arbeit via Office 365 längst zum Alltag unserer Schüler*innen. Eine Befragung der Jugendlichen und Eltern hat gezeigt: Auch wenn Schulbank gegen Küchentisch getauscht wurde – ein Bruch wurde nicht wahrgenommen, der Schulalltag ging weiter.

Kollaborativ, kritisch, kreativ – und mit verändertem Mindset

In der konkreten Unterrichtsarbeit war nun das, was als zeitgemäße Bildung gilt, plötzlich realisierbar. Die Jugendlichen konnten mit vielfältigem multimedialen Material konfrontiert werden, individuelle Schwerpunkte setzen, recherchieren, hinterfragen, weiterdenken. Die 50-Minuten-Stunde als enges Korsett war aus dem Weg geräumt – und jene Inhalte, die auf Knopfdruck frei verfügbar sind, konnten endlich vollumfänglich genutzt werden. Ansonsten scheitern solche Vorhaben oft schon an fehlenden Räumlichkeiten, den begrenzten Möglichkeiten der Arbeit am Smartphone oder ökonomisch bzw. ökologisch begründbaren Bedenken, jeder und jedem verschiedenste Materialen in Form von Kopien bereitzustellen.

Doch nicht nur die organisatorische Ausgangsbasis war eine andere, sondern vor allem das Mindset. Befreit von der Klassensituation und zeitlich flexibler entwickelten viele rasch mehr Selbstbewusstsein bzw. die Bereitschaft, sich anstelle von Copy-Paste-Arbeiten auf Themen einzulassen und eigenständig Inhalte zu produzieren, auch in der virtuellen Zusammenarbeit mit anderen und in neuen Formaten. Ebenso verändert war die Kommunikation mit Lehrkräften, die individueller, lebhafter, offener und auch zielgerichteter geführt wurde. Vor Corona war es undenkbar, als Lehrperson im Chatfenster mit Entwürfen konfrontiert oder gar zum Videocall gebeten zu werden.

Neue Haltungen wurden entwickelt, die es zu kultivieren gilt. Das gilt ausdrücklich auch für Lehrende.

Was darf bleiben?

Fest steht: Vieles in dieser Phase hat sich bewährt. Der Schweizer eLearning-Pionier Beat Döbeli Honegger hielt – ähnlich wie die Autor*innen des Schulgschichtn-Blog – in einem Beitrag in Bildung Schweiz zurecht fest: „Viele Lehrerinnen und Lehrer wuchsen in dieser Zeit digital über sich hinaus und schafften, was sie sich noch vor Kurzem nicht zugetraut hätten.“ Für unsere Schüler*innen gilt dies gleichermaßen. Doch wie geht es nun weiter?

Schon Ende April ging die Zeit der Frage nach, wann und wozu genau Lernende im Lichte der Corona-Erfahrungen überhaupt eine Lehrkraft benötigen, und konstatierte: „Ein System wankt“. Maike Schubert, Leiterin einer Hamburger Reformschule, steuerte das titelgebende Zitat bei und fragte, ob Schule künftig Ort der Debatte, der sozialen Begegnung und nicht mehr („nur“) der Wissensvermittlung sein könnte. Das klingt nach zentralen Gedanken pädagogischer bzw. bildungspolitischer Diskurse, die schon lange geführt werden. Das klingt, ist man Freund des eLearnings und seiner Begriffe, nach Flipped Classroom für alle. Und durch die Corona-Erfahrung erscheinen diese Visionen nun auch greifbar.

Während Kompetenzorientierung, Differenzierung und Individualisierung in Konferenzzimmern allzu oft als Chiffren realitätsferner Debatten als rotes Tuch gelten, wurde das Distance Learning in seinen Facetten nicht von außen aufoktroyiert und abstrakt diskutiert, sondern erfahren. Mit vielen positiven Erlebnissen – und wenn sie auch zunächst einmal nur im angenehmen Gefühl kulminierten, eine ganz Klasse schlagartig stummschalten zu können, wenn Ruhe gefragt war.

Rettet den Baby-Elefanten – und lernt aus der Situation

Die Distance-Learning-Phase war eine fordernde, doch spannende Zeit, in der viele Lehrende ihre Medienkompetenz massiv ausbauten und Haltungen überdachten. Der flott formulierten Idee eines rotierenden Distance-Learning-Tags in der Oberstufe können viele etwas abgewinnen, auch da veränderte Bildungsziele bewusster wurden. Offen ist, ob die Schulaufsicht das Momentum zum Aufbrechen von Strukturen nutzt.

In der Fortbildung sollte die Phase der bloßen Technikschau jedenfalls zu Ende sein. Wollen die neu erworbenen Fähigkeiten weiter genutzt werden, braucht es handfeste didaktische Konzepte, jene des Fernunterrichts können gewiss nicht 1:1 in den Klassenraum übertragen werden. Was sich aus Corona-Tagen also mitnehmen lässt, ist im lebhaften Diskurs zu klären, den man nun führen wird.

Jedenfalls sind Schulen bestens beraten, das zu tun. Denn: Das Vergessen macht sich breit. Der Baby-Elefant, der uns durch die Krise geführt hat, benötigt längst Artenschutz, und auch andere Abläufe, die zweieinhalb Monate lang Routine waren, drohen verloren zu gehen. Mögen sich Schulen nicht ausgerechnet bei der Frage, ob sie selbst lernende Organisationen sind, die Blöße geben.

Lernideen 23/2020